100 Jahre Groß-Berlin: die Selbstbewussten – Charlottenburg

Aus der Serie „100 Jahre Gross-Berlin, 1920 – 2020“:

Bisher habe ich Ihnen, liebe Leser, ja in einigen der ersten Artikel die Welt der „Berlin-Freunde“ unter den damaligen Umlandgemeinden vorgestellt. Schöneberg und sein Bürgermeister Dominicus waren die vielleicht engagiertesten Befürworter einer Strukturreform, die de facto einer Erweiterung des Berliner Stadtgebietes gleichkam. Wir Heutigen, die die Entwicklungen schon kennen, machen es uns dabei aber vielleicht ab und an zu leicht, wenn wir diese Entwicklung als Selbstverständlichkeit betrachten. Ist es nicht auch spannend, mal bei einer Kommune vorbeizuschauen, die bis 1920 wohl eine der entschlossensten Gegnerinnen einer Abgabe der eigenen, städtischen Souveränität war ? Na, dann…

Sophie Charlotte in Übergröße am nach ihrem Lustschloss benannten Tor.

Charlottenburg. Alleine der Name lässt das Bild der Hohenzollern-Residenz mit dahinterliegender Parklandschaft im Gedächtnis aller, die schon einmal dort waren, aufleuchten. Und nicht ganz grundlos. Denn die Geschichte Charlottenburgs beginnt ja eigentlich erst mit der Errichtung eines kleinen Lustschlösschens für die erste, preußische Königin mit dem Namen Sophie Charlotte. So um 1695 herum ging es damit los (da war sie noch gar keine Königin, sondern „nur“ Kurfürstin). Sorry, liebe Freunde in „Schlorrndorf“, aber das Fischerdörfchen Lietzow, welches sich schon vor dem Schloss in der Nähe befand, kann ich einfach nicht so richtig für voll nehmen.

Leider muss ich Ihnen aber an dieser Stelle den ebenso langsamen, wie am Ende höchst erfolgreichen Aufstieg der Kommune Lietzow-Lützenburg-Charlottenburg im Detail vorenthalten. Dieser Beitrag würde einfach viel zu lang werden, wenn ich etwa von der Verleihung des Stadtrechtes 1705 erzählte und dem letztlich erfolglosen Versuch des „Soldatenkönigs“ diese wenige Jahre später wieder rückgängig zu machen. (So viel zum Thema „preußischer Absolutismus“. Nicht mal der Choleriker unter den Hohenzollern konnte seinen Willen gegenüber dem noch kleinen Charlottenburg durchsetzen…ts…ts.)

Also, fragen wir uns doch einfach, was Charlottenburg so alles einzubringen hatte, als die Frage der Gebietsreform um „Alt-Berlin“ herum sich zu Beginn des 20. Jahrhundertes der Klärung näherte. Und das war viel.

  • Turm des Charlottenburger Rathauses

    Da war etwa ein funkelnagelneues Rathaus. Geschmackvoll mit beinahe an Jugendstil erinnernden Fassadenschmuck-Elementen versehen, ragte (und ragt noch immer) sein Turm mit 88 m Höhe sogar über die Kuppel von Schloss Charlottenburg hinaus (48 m). Bürgerliches Selbstbewusstsein in Architektur verbaut. 1905 eröffnet, noch immer genutzt.

  • Das Schloss selbst war natürlich noch immer da. Die letzte Nutzung des Gebäudes durch ein Mitglied des Hauses Hohenzollern war zwar schon wieder eine Weile her (1888), aber es war absehbar, dass Park und Schloss als Anlage über kurz oder lang eine Touristenattraktion werden würden. Was sich ja auch bewahrheitet hat. Als ich vor vielen Jahren meine Ausbildung machte, nannte man so etwas ein „USP“, ein „unique selling proposal“. Vermutlich gibts inzwischen andere Bezeichnungen dafür, aber als „Alleinstellungsmerkmal“ Charlottenburgs, ebenso wie als Namensgeberin dient die Anlage ja bis heute. Ich selbst bin auch immer wieder gerne dort. Mittlerweile finden wir im Mittelbau so eine Art „Mini-Hohenzollernmuseum“, da es ja das traditionelle Schloss Monbijou, das einst dafür herhielt, nicht mehr gibt.
  • Die Königliche Technische Hochschule Charlottenburg. Hier lehrte etwa Franz Schwechten und lernten Otto Lilienthal und Alfred Grenander. Forschung und Lehre im technischen Bereich auf weltweitem Spitzen-Niveau. Zu seiner Zeit zumindest. Mit bestem Ruf. Auch deutschlandweit die erste Hochschule, die einen Doktortitel der Ingenieurswissenschaften verleihen durfte (ab 1899). Nicht umsonst auch die Vorgänger-Hochschule der heutigen Technischen Universität Berlin. Ob diese allerdings noch immer weltweites Spitzen-Niveau erreicht, ist mir unbekannt.
  • Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Für den Ort habe ich aber einen eigenen Beitrag verfasst. Lesen Sie ihn HIER nach. Interessant übrigens: die Gedächtniskirche war der Grund, warum die Charlottenburger Stadtväter die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nagelneue, elektrische Bahn „unter die Erde“ zwangen. Die „Hoch- und U-Bahngesellschaft“ musste sich den ästhetisch begründeten Wünschen der Charlottenburger beugen, die keine stählernen „Stelzen“ um das Gotteshaus herum zu sehen wünschten. Der nahegelegene U-Bahnhof „Zoologischer Garten“ liegt darum noch heute unter Bodenniveau.
  • Das Charlottenburger Tor. Ein aus Stein und Bronze gefertigter „Stinkefinger“ Charlottenburgs für die Reichshauptstadt, der natürlich seine „Schauseite“ Berlin zuwendet (s. Foto oben). Also nach Osten, auf das Brandenburger Tor zu, gerichtet ist. Auf der heutigen „Straße des 17. Juni“, am Übergang über den Landwehrkanal, stehen die zwei Hälften dieser einst massiven „Schaut-hier-beginnt-Charlottenburg“-Anlage. Überlebensgroße Figuren der Namensgeberin der Stadt und ihres Ehemanns, des ersten Königs IN Preußen, Friedrich, bezeugen jedem, der hier vorüberfährt, wo die „greatest little city“ einst begann.
    Blick über die Straße des 17. Juni zum Charlottenburger Tor.

    Bis heute übrigens, wo das Ensemble nicht mehr so dicht wie zu Beginn beisammensteht und die Zugewandtheit der beiden Bronze-Figuren zueinander nicht mehr sofort  erkannt werden kann. Das Charlottenburger Tor steht seit 1908 und stand einst in direkter Sichtlinie zum „Brandenburger Tor“ Berlins (Sie erinnern sich: „Stinkefinger“ Charlottenburgs.). Seit der Anlage des „Großen Sterns“ mit der Siegessäule ist dies aber nicht mehr erkennbar (1938/39, die Nazis halt…), da die Sichtlinie nun versperrt ist.
    Interessantes Detail: Das Tor wurde im Jahre 2007 generalsaniert. Doch schon 2014 musste das kleine Museum im Nordteil der Anlage wieder geschlossen werden. Baufälligkeit, der Bezirk wollte keine Verantwortung mehr dafür übernehmen und warf den Betreiber raus. Natürlich, wie heutzutage üblich, ohne ein Sanierungs- oder Nachnutzungskonzept zu präsentieren. Kein Geld, kein Interesse…. Ein Jahr später besichtigte der Reporter einer Lokalzeitung die Anlage und war über deren Zustand entsetzt…NUR ACHT JAHRE NACH DER SANIERUNG ! Das Tor rottet also innerlich vor sich hin, weil alle Verantwortlichen achselzuckend gar nichts tun. Berliner Verhältnisse eben…

  • Das Deutsche Opernhaus in der Bismarckstraße. Die Charlottenburger leisteten sich ein eigenes Opernhaus, das 1912 eröffnet wurde. Man dachte und plante groß damals in Charlottenburg, also hatte die Oper 2.300 Plätze. Sie war auch als progressives Gegenstück zur etwas im Formalen erstarrten, königlichen Oper Unter den Linden in Berlin (heute „Staatsoper Berlin“) gedacht, aber das ist wohl eine andere Geschichte.
    Wie nicht anders zur erwarten, wurde dieses Gebäude in der Bismarckstraße im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt. Sein Nachfolgebau aber wurde 1961 eröffnet, heißt nun „Deutsche Oper Berlin“ und steht an gleicher Stelle. Sie lädt bis heute Freunde der „Hochkultur“ zu sich ein.

Die Bevölkerungsentwicklung übrigens zeigte damals ähnlich „explosive“ Tendenzen, wie in einigen der anderen Nachbarstädten Alt-Berlins. Eine Volkszählung 1875 spricht von 25.000 gemeldeten Bürgern Charlottenburgs. Die letzte Vorkriegszählung 1910 gibt uns die (vielleicht als Abschreckung für „Groß-Berlin“ etwas nach oben „frisierte“) Zahl von 306.000 Charlottenburgern an. Beeindruckend. Charlottenburg war also nach Berlin die zweitgrößte Stadt, die auf der Liste der „Groß-Berlin“-Macher stand (Nr. 3 war Deutsch-Rixdorf mit ca. 290.000 Einwohnern, übrigens ebenfalls eine Gemeinde, in der es einige Skepsis gegenüber Groß-Berlin gab).

Um 1904 herum war Charlottenburg sogar die Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Steueraufkommen in Preußen. Das war mal eine Hausnummer. Kein Wunder, dass dem Charlottenburger Bürgermeister Kurt Schustehrus nachgesagt wird, er habe, auf das „Groß-Berlin“-Projekt angesprochen, so etwas geäußert wie, dass, bevor es ein Groß-Berlin gäbe, er lieber ein Groß-Charlottenburg verwirklicht sehen wolle. Das nenne ich mal kommunales Selbstbewusstsein, aber es war keinesfalls unbegründet.

Warum also wurde Charlottenburg, das „Reiche“, das Selbstbewusste, 1920 mehr oder minder gegen den Willen seiner Bürger nach Berlin eingemeindet ? Was soweit geht, dass selbst heute noch vage Gerüchte in Charlottenburg(-Wilmersdorf, aber das ist wieder eine andere Geschichte) kursieren, die „Annexion“ wäre sozusagen formal nicht ganz „sauber“ erfolgt ?

Das ist schwer zu sagen. Man muss sich die damalige, post-revolutionäre politische Situation wohl einmal genau anschauen und sie mit den massiven Begehrlichkeiten des Berliner Magistrats nach Nettozahlern im neuen Stadtgebiet abgleichen. Denke ich zumindest. Noch eifrigere Studenten der Lokalhistorie mögen da zu anderen Ergebnissen kommen, aber mein Verdacht flüstert mir zu:
Da „Groß-Berlin“ eben auch ein hauptsächlich von der damaligen Linken und extremen Linken in Preußen getragenes Projekt war, um „Umverteilungen“ vorzunehmen oder in deren Worten „Ungerechtigkeiten“ zu beseitigen, MUSSTE man einfach die Kommunen dabeihaben, die ZAHLTEN. Denn an potentiellen Zahlungsempfänger-Kommunen gab es keinen Mangel. Die rannten dem Magistrat die Türe ein, um bei Groß-Berlin dabeizusein. Also, was tut man, wenn man „die Welt ein bischen besser machen“ will ? Man zwingt irgendjemanden, irgendetwas zu tun, dass er eigentlich aus freien Stücken nie getan hätte. Und irgendjemanden dazu, den Spaß zu bezahlen: Voilá: Charlottenburg wurde ein Bezirk „Groß-Berlins“.

Was gibt ein Historiker dazu zu Protokoll, als „abgeschwächte Version“ meiner Spekulationen ?

„Die Braut wollte umworben werden, was Berlin damals nicht so recht gelang.“

Und worauf Berlin wohl auch keinen Wert legte…

Kurt Schustehrus, der einst von „Groß-Charlottenburg“ träumte

Nein das soll keine Absage meinerseits an die Notwendigkeiten einer gezielteren Planung (etwa in Sachen Wohnungsbau oder Verkehrsströme) in der Region um Alt-Berlin herum sein. Hätte man das auch mit einer Erweiterung der Kompetenzen des sog. „Zweckverbandes“ von 1911 erreichen können, oder war „Groß-Berlin“ eine Art „historische Notwendigkeit“, wie man uns heutzutage rückblickend immer mit so leichtfertig-achselzuckendem Unterton vermitteln will ? Warum etwa gab es in keiner der von der „Übernahme“ bedrohten Kommunen eine „Volksbefragung“ zum Thema ? „Demokratisierung“ war doch das Motto der Zeit nach dem Kaiserreich. Groß-Berlin wurde aber per Gesetz, also „von oben herab“, ohne wirkliche Beteiligung vieler Bürger gebildet. Merkwürdig…

Sie sehen, liebe Leser, mit etwas Wissen im Kopf macht historische Spekulation durchaus Sinn und vor allem auch Spaß, selbst wenn man den Ausgang einer Problemlage schon kennt.

Aber der Beitrag ist bereits viel zu lang geworden, bitte verzeihen Sie mir das. Welchem Thema wende ich mich nun also als nächstes in der Serie „100 Jahre Groß-Berlin“ zu ? Mal schauen…

P. S. : Auch heute noch halten sich viele Charlottenburger für „etwas besseres“. Zumindest den Spandauern, Schönebergern oder Wilmersdorfern gegenüber können Anwohner des Lietzensees etc. auch heute noch eine Art übersteigertes Selbstbewusstsein an den Tag legen. Habe es vor einigen Monaten selbst erlebt. Eigentlich dachte ich, alte „Ressentiments“ und „Macken“ diverser Kiezer hätten sich dank des massiven Bevölkerungswandels seit 1990 und dank der erneuten Bezirksreform von 2001 inzwischen von alleine erledigt. Z. Bsp. erstreckt sich der einst berüchtigte Spandauer Lokalpatriotismus heute, wo viele Spandauer aus Russland, der Türkei oder anderen Ländern stammen, eigentlich nur noch auf den örtlichen Lokalhistorikerverein. Das „typisch Spandauerische“ ist nur noch in alten Erzählungen zu finden. Viele Charlottenburger aber pflegen ihren Hochmut bis heute mit genüsslicher Selbstbezogenheit. Auch das kann man respektieren.

Quellen:

Text:

Fotos:

  • von mir, (c), 2018, 2020
  • gemeinfrei

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